Kolumne zu aktuellen Themen von Dr. Torsten Kühne

Was heißt heutzutage noch bürgerlich?

Die Wurzeln des modernen Bürgertums reichen bis zur Französischen Revolution zurück. In der Auseinandersetzung mit dem Ancien règime des absolutistischen Zeitalters entwickelte sich der sogenannte Dritte Stand zum Bürgertum weiter. Das Wort „citoyen“ bezeichnete den aufgeklärten Staatsbürger, der Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen wollte. Aus den allgemeinen Bürgerrechten wurden schließlich die universellen Menschenrechte der Neuzeit. Die Errungenschaften des Bürgertums bilden noch heute die Grundlage für die Verfassungen unserer westlichen Demokratie. Aus dem aufgeklärten Bürgertum hat sich mittlerweile die moderne Bürgergesellschaft entwickelt.
Der Rechtsstaat und die Demokratie zählen zweifelsohne zu den größten Errungenschaften des bürgerlichen Kampfes. Sie sollen Schutz vor Willkür staatlicher Obrigkeit bieten. Die Auseinandersetzung mit staatlicher Autorität und bürokratischer Verwaltung sind auch heute Grundelemente unserer Bürgergesellschaft. Zahlreiche Bürgerinitiativen und Bürgerentscheide stellen Entscheidungen staatlicher Organe in regelmäßigen Abständen in Frage. Gerade in jüngster Zeit erleben wir mit dem sogenannten Wutbürger einen neuen Anlauf zu mehr direkter Demokratie in Deutschland. Der Schutz des Privaten und der Privatsphäre sind ein konstituierendes Element der Bürgergesellschaft. Von der Frage der Bekämpfung des Terrorismus bis zur Datensicherheit im Internet reichen die Auseinandersetzungen um mehr oder weniger staatlichen Einfluss. Die Familie spielt dabei eine große Rolle als Rückzugsraum vom öffentlichen Leben. Das private Eigentum steht unter dem besonderen Schutz unserer Verfassung.

Der Individualismus ist vielleicht das prägendste Merkmal der modernen Bürgergesellschaft. Uniformität und Anpassung stehen im Gegensatz zum Wunsch nach Selbstverwirklichung. Der moderne Bürger möchte seine Einzigartigkeit auch öffentlich demonstrieren. Mit dem Individualismus geht auch die besondere Bedeutung der Freiheit einher. Erst die Freiheit ermöglicht es dem Individuum, seine Talente und Fähigkeiten zu entwickeln. Der moderne Freiheitsbegriff unterscheidet sich aber vom Freiheitsideal vergangener Jahrhunderte. Die Bedeutung der Freiheit und des Individuums haben den Liberalismus zu einem Wesensmerkmal des Bürgertums gemacht. Bürgerlich und liberal wurden lange Zeit fast synonym im Sinne von freiheitlich verwandt. Auch heute kennzeichnet den modernen Bürger eine Offenheit gegenüber dem Fremden und dem Neuen. Zu strenge Regeln werden abgelehnt. Der Wettbewerb im Allgemeinen befürwortet. Das Zuschaustellen einer liberalen Grundeinstellung ist auch in den bürgerlichen Vierteln des neuen Berlin eine alltägliche Übung. Schon in den Anfängen des modernen Bürgertums spielte die Bildung eine besondere Rolle. Sie war der Schlüssel zum Aufstieg in gehobene Positionen in Staat und Gesellschaft. Nicht durch Privilegien oder Herkunft, sondern über Fleiß und Leistung konnte der Bürger in der Gesellschaft aufsteigen. Bildung war und ist ein bürgerliches Statussymbol.

Die Grundwerte des aufgeklärten Bürgers des 19. Jahrhunderts finden sich auch beim Vertreter der modernen Bürgergesellschaft des 21. Jahrhunderts wieder. Selbst teilweise belächelte Bürgertugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Ordnung und Disziplin erleben wieder eine Renaissance. Die Fragen der Bildungs- und Familienpolitik berühren Kernfragen unserer Bürgergesellschaft. Geändert haben sich im Laufe der Zeit allerdings die Erscheinungsformen des Bürgerlichen. Die bürgerlichen Umgangsformen haben sich ebenso gewandelt wie das bürgerliche Familienbild. Das Familienbild der Biedermeierzeit ist heutzutage ebenso wenig mehrheitsfähig wie das Familienbild der Nachkriegszeit. Der Kern der bürgerlichen Familie als privater Rückzugsraum mit der Übernahme gegenseitiger Verantwortung ist hingegen unverändert geblieben. So sind die modernen Familien von Alleinerziehenden oder gleichgeschlechtlichen Partnern kein Beweis für das Ende der Bürgerlichkeit, sondern vielmehr für die Lebendigkeit bürgerlicher Werte. Die moderne Bürgergesellschaft steht in der Tradition des aufgeklärten Bürgertums. Der Wesenskern der Bürgerlichkeit hat die Jahrhunderte unbeschadet überstanden.